Der Baum – an einer Stelle, die als „Sycamore Gap“ (dt. Bergahorn-Lücke) bekannt ist – befand sich auf dem historischen, zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörenden Hadrianswall, der vor etwa 1.900 Jahren errichtet wurde

Genius Loci in Not?

Die Entweihung und Zerstörung von Naturheiligtümern und Monumenten

Erstmalig erschienen in der Zeitschrift „erde • mensch • raum“ Ausgabe 1/2023

Im September 2023 ging ein Aufschrei durch die britische Presse und die sozialen Medien. Bald schloss sich auch die internationale Berichterstattung an. Viele Menschen hielten das Ereignis für unfassbar. Worum handelte es sich?

Um die heimliche nächtliche Fällung eines der beliebtesten Bäume in ganz Großbritannien: Der 300-jährige Bergahorn im Northumberland-Nationalpark im Norden Englands. 

Bekannt wurde der Bergahorn Millionen von Menschen, als er 1991 in Kevin Costners Blockbuster-Film „Robin Hood“ auftauchte. Seitdem ist er ein beliebtes Fotomotiv geworden. Kein Wunder, strahlt er doch in seiner Einsamkeit, im Kessel einer Hügellandschaft, etwas Mystisches und zugleich Inspirierendes aus. Der Baum – an einer Stelle, die als „Sycamore Gap“ (dt. Bergahorn-Lücke) bekannt ist – befand sich auf dem historischen, zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörenden Hadrianswall, der vor etwa 1.900 Jahren errichtet wurde, um die äußerste nordwestliche Grenze des Römischen Reiches zu schützen.

Von den Behörden wurde bekannt, dass es ein „Akt des Vandalismus“ gewesen sei. Die Bevölkerung empörte sich und diskutierte die Besonderheit von diesem Ort. Viele Kommentare hatten eine Aura des Religiösen, der Baum erschien vielen als „heilig“ und daher auch als unantastbar. Viele Menschen schienen zu spüren, dass es sich hier nicht nur um „Vandalismus“ drehte, sondern um ein Ereignis, das einschneidend war und die Seele berührte.

Erschütterung des Status Quo

Vandalismus an heiligen und besonderen Orten nehmen in letzter Zeit scheinbar zu. Immer wieder liest man von Zerstörung oder Grafittibeschmierung an megalithischen Stätten, Menhiren oder Steinkreisen in Irland und England. Einerseits werden diese Orte teilweise für fundamentale Religiöse als bedrohliche Konkurrenz empfunden, andererseits handelt es sich um Unachtsamkeit und Ignoranz. 

Mich persönlich berührte es sehr, als ich vor etwa 10 Jahren an einem meiner liebsten „Orte der Kraft“, dem Odilienberg im Elsass, ankam und zum sogenannten „Feenplateau“ mit seinen vielen Schalensteinen, wanderte. Dieser feine und seelisch bewegende Platz war kaum wiederzuerkennen. Bulldozer waren durch den Wald gefahren, zerstörten was ihnen in den Weg kam. Die Kraft dieses Ortes hatte sich in die Erde zurückgezogen. Erst mal kamen mir die Tränen. Und dennoch regenerierte der Ort sich über die Jahre und verlor nichts von seiner Anmut und Kraft.

Die Erschütterung, die durch Großbritannien geht, erinnert an einen französischen Gegenpart. Am 15. April 2019, während die weltberühmte Kathedrale Notre-Dame in Paris renoviert und restauriert wurde, fing das Dach Feuer und brannte 15 Stunden lang. Die Kathedrale wurde schwer beschädigt. Auch hier war die emotionale Betroffenheit groß. Menschen fühlten mit, die schon vor Ort waren – und auch solche, die noch nie dort waren. Auch hier erschütterte das Ereignis unser Innerstes. Das konnte doch nicht einfach passieren, oder? Das Heiligtum war lange Zeit ein zentraler Ort von Paris. Was wird nun aus Paris? Eine berechtigte Frage, wenn wir solche Orte aus geomantischer Warte betrachten.

Das Reset des Genius Loci

Was passiert aus Sicht der Geomantie in solchen Momenten? Der Genius Loci („Geist des Ortes“) ist ein identitätsstiftendendes Geistiges Prinzip, welches sich an einem Ort verankern kann, oftmals repräsentiert durch einen alten Baum, eine Quelle oder einen Berg. Kulturell geprägt erscheint er u.a. als ein besonderes Gebäude, eine Säule, der Stadtmitte oder als Statue. Von dort aus identifiziert sich der Genius Loci mit dem umgebenden Raum, erfüllt ihn mit seiner Präsenz und Lebenskraft. Dies funktioniert jedoch nur so lange, wie der Ort, und die in ihm lebenden Menschen, mit diesem Genius „schwingen“, sich mit ihm verbunden fühlen, d.h. seinem Geiste entsprechen. Geomantie-Pionier Hans-Jörg Müller beschrieb es folgendermaßen: „Der Genius lebt in einer ihm eigenen (Atmo-)Sphäre. Als immaterielles Wesen kann er gar nicht in einem Raum existieren, der ihm nicht […] sympathisch ist.“

Ein Genius Loci kann also vergehen und wechseln. Entspricht dieser nicht mehr dem Zeitgeist, dann kann es sein, dass ein neuer Genius installiert wird. Früher geschah dies sehr bewusst, heute eher unbewusst. Ich habe dies in einem Hohenloher Kloster erlebt, an dem der Erzengel Michael den Genius Loci darstellte. Nach geomantischen Forschungen stellte sich heraus, dass für lange Zeit ein alter Baum verehrt wurde, ein „Baum des Pans“. Dieser alte Genius Loci ist sogar noch in der Klosterkirche abgebildet, wie er vom Michael mit der Lanze aufgespießt wird.

Was passiert, wenn einem Genius der Körper, sein Ankerpunkt in unsere materialisierte Welt genommen wird? Man könnte es als ein „Reset“ bezeichnen. Das alte Prinzip kann nicht mehr wirken. Dies kann als ein erschreckender Identitätsverlust für eine ganze Region erlebt werden. Die Römer verstanden das gut und entwickelten die Taktik den Genius Loci von einer Stadt, die sie erobern wollten, zu stehlen und ihm in Rom einen neuen Tempel zu bauen. Somit dauerte es nicht lange bis die Stadt im Chaos versank und es ein leichtes war sie einzunehmen. Auch der bekannte Mönch und christliche Missionar Bonifatius (673 – 754 n. Chr.) gilt als ein „Baumfäller“ einer heiligen Eiche nahe Geismar. Die Eiche war dem Gott Donar geweiht worden. Die Augenzeugen erwarteten nun die Reaktion der germanischen Gottheit, doch diese blieb aus. Der Genius Loci der Germanen wurde durch einen neuen ersetzt. Aus dem Holz des Baumes wurde eine Kirche bei Fritzlar gebaut.

Ein neuer Geist zieht ein

Die Frage, die wir uns bei Zerstörung und Vandalismus an heiligen Orten stellen können, ist, was für ein geistiges Prinzip wurde denn da angegriffen? Was für ein geistiges Prinzip erfährt gerade eine Transformation? Wenn ein Ort wie Notre Dame brennt, dann ist dies eine gewaltige Transformation. Und daraus ableitend: Welches neue Prinzip möchte einziehen? Welcher Genius Loci ist von nun an sympathisch, also eins mit der Gegend?

Der eingangs erwähnte 300-jährige Bergahorn hat schon eine eigene Antwort parat: Ironischerweise hat der Vandale dem Baum möglicherweise einen Gefallen getan und seine Lebensdauer verlängert. Der Europäische Bergahorn reagiert sehr gut auf Schnitte und ist bekannt für sein starkes Nachwuchsverhalten. In ein paar Wochen wird es mit Trieben bedeckt sein und im nächsten Jahr wird es ein Dickicht aus Zweigen sein. Der Baum wird wie ein Phönix aus der Asche auferstehen.

Vielleicht hat der Genius Loci des Northumberland-Nationalpark doch noch nicht ausgedient.

Pascal Zielke